Ein bisschen Lean geht eigentlich nicht

Das Interview führte Sabine Müller-Hofstetter, Baumagazin a3BAU

a3BAU: Die Bauwirtschaft ist auf der Suche nach Effizienzsteigerung. Derzeit taucht Lean Construction, abgeleitet aus dem Lean Management, immer öfter als Schlagwort auf. Nur ein Trend oder die Trendwende am Bau?

Dieter Budinsky: Lean Management ist tatsächlich derzeit hoch aktuell. An der TU Graz wird gerade ein Lehrgang für „Lean Baumanagement“ eingerichtet. Wobei das Thema an sich nicht neu ist. Ich bin 1991 bei GM (Anmerkung: General Motors) damit erstmals in Berührung gekommen, denn seinen Ursprung hat Lean Management in der Automobilindustrie. Während meiner Tätigkeit in der Organisationsentwicklung bei GM habe ich gemerkt, dass von verschiedensten Branchen Anfragen zum Lean-Ansatz kommen. Wobei damals die Abkürzung KVP – Kontinuierlicher Verbesserungsprozess – sehr modern war, aber das Gleiche gemeint hat.

Das ist die Übersetzung aus dem Wort „Kaizen“. Kai steht für Veränderung, Wandel, Zen heißt wörtlich übersetzt „das Gute“ wird aber mit „zum Besseren“ interpretiert. Mitte der 90er-Jahre habe ich mich mit dem Lean Management in der Beratung selbstständig gemacht. Da war ein ziemlicher Run auf die Beratung. In den 2000ern wurde es dann stiller um Lean Management. Jetzt ist das Thema wieder ganz aktuell.

Gab es in der Anfangsphase auch Anfragen aus der Baubranche?

Nein. Meine erste Erfahrung in diese Richtung hatte ich mit einem Trockenbauer, den ich beraten hatte und der dann den Zuschlag für den IZD Tower bekam. Wir haben dafür sogar ein eigenes EDV-Programm entwickelt, das die Steuerung und Administration der tageweisen Lieferungen des sperrigen Materials auf die Baustelle erleichtert hat. Ich kann mich erinnern, dass wir damals an allem schuld waren, wenn etwas auf der Baustelle schiefgelaufen ist. Die Baubranche war lange Zeit überhaupt nicht bereit für Lean Management.

Heute setzt man Lean Management ein, um Abläufe auf der Baustelle zu verbessern. Was hat zu diesem Umdenken geführt?

Tatsächlich haben wir uns zu Beginn ganz stark mit Logistik beschäftigt. Daraus entstand das Unternehmen Baulog, das später an Schachinger verkauft wurde. Dennoch hat es noch eine Weile gedauert, bis sich Lean Construction, wie wir es heute verstehen, etabliert hat. Weil lange Zeit Lean unterschiedlich interpretiert und schubladisiert wurde, u. a. als besseres Vorschlagswesen, oder auch in Verbindung gebracht wurde mit der Analyse und Überwachung von Geschäftsvorgängen, unter dem Schlagwort „Lean Six Sigma“ auch mit Statistikmethoden verknüpft wurde. Da stand mehr die Problemsuche im Vordergrund und weniger nachhaltige Prozessveränderungen im Sinne des Lean Mindsets.

Bei Lean geht es aber hauptsächlich darum, Prozesse besser in Fluss zu bringen und zu halten. Wir haben gemeinsam mit dem Unternehmen Schrenk eine Art Akademie entwickelt, um in Simulations-Spielen die Denkweisen hinter Lean zu erleben und in Folge zu vertiefen. Und um die Methoden und Werkzeuge zur Prozessverbesserung und die ungeahnten Möglichkeiten sichtbar zu machen.

Wie funktioniert das?

Wir machen „Lean“ in Lego-Spielen erlebbar. Es geht einfach darum, dass man den tieferen Sinn von Lean Management versteht, weil die Leute sehr methodenfixiert sind. Sie kennen vermutlich das Last Planner-System, von dem jetzt alle reden. Das ist eine Methode. Aber um Prozesse nachhaltig zu verändern, muss ich die Lean-Philosophie dahinter verstehen, das Mindset, die Einstellung, Prozesse wirklich ins Fließen zu bringen. Alles, was nicht der Wertschöpfung dient, wird erkannt und versucht rauszubringen aus den Abläufen. Das wird als Muda, also Verschwendung, bezeichnet, die es zu vermeiden gilt.

Kann man das an einem Beispiel veranschaulichen?

Wenn ich ans Flipchart gehe und finde dort keinen Stift, der schreibt und ich muss erst einen suchen, dann ist das Verschwendung. Und man kann sich vorstellen, was auf Baustellen an Verschwendung passiert. Wobei sich Lean, wie gesagt, nicht nur auf den Materialfluss, sondern auch auf den Informationsfluss bezieht. Verschwendung heißt, ich bekomme nicht die richtige Information zur richtigen Zeit.

Um das zu verhindern und diese Verschwendung zu erkennen, ist eines der Grundprinzipien, Fehler ganz schnell an die Oberfläche zu bringen. Umgelegt auf die Baustelle hilft mir das Last Planner-Prinzip, Probleme im Ablauf erkennbar zu machen, rasch darauf zu reagieren, den optimalen Fluss wieder herzustellen und für die wertschöpfenden Prozesse auf der Baustelle die bestmögliche Situation durch optimalen Informations- und Materialfluss zu generieren.

Lean bedeutet eine neue Art der Zusammenarbeit, bei der sich die Qualität erhöht und die Abläufe schneller werden. Damit ergibt sich die Kosteneinsparung von selbst, sonst macht man es falsch.

Dieter Budinsky

Workshop Teilnehmer

Klingt jetzt nicht so schwierig. Wie viele Bauunternehmen arbeiten schon Lean?

In Wahrheit keines. Es gibt Baustellen, wo das Last Planner-System eingesetzt und behauptet wird, es handelt sich um eine „Lean“-Baustelle. Aber das ist noch nicht „Lean“, weil die Prozesse dahinter gar nicht da sind. Aus meiner Erfahrung kann ich Folgendes sagen: „Lean“ funktioniert als philosophischer Gesamtansatz dann, wenn ich auf der Baustelle zu einem x-beliebigen Mitarbeiter gehe und der sagt, „Ja, diese Baustelle ist wirklich anders, da funktionieren die Dinge, ich muss nicht dauernd herumstreiten, ich muss nicht dauernd alles suchen“. Dann haben Sie eine „Lean“-Baustelle. Und davon sind wir sowas von weit davon entfernt.

Das heißt, ein bisschen „Lean“ geht eigentlich nicht?

Ich möchte nicht sagen, dass man nicht einen Nutzen beispielsweise aus dem Last Planner-System ziehen kann und aufgrund der verbesserten Information Probleme lösen kann. Das hilft natürlich weiter. Aber es ist keine „Lean“-Baustelle, sondern dann habe ich es geschafft, das Niveau der Kommunikation zu heben.

Wie kommen wir weiter?

An der TU Graz wird, wie eingangs erwähnt, gerade unter der Leitung von Gottfried Mauerhofer – Professor für Baumanagement – ein neuer Lehrgang ab Herbst installiert, der „Lean Baumanagement“ heißen wird. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, Es ist aber enorm wichtig, dass tatsächlich die Lean-Philosophie als Basis dafür dient. Wir müssen wegkommen vom Gedanken, Prozesse isoliert in den einzelnen Schritten ressourcenorientiert zu optimieren.

Darf ich Sie um ein Beispiel zur Veranschaulichung bitten?

Ein schönes Beispiel ist der Einkauf. Da wird optimiert möglichst kostengünstig in großen Mengen eingekauft. Was passiert? Die Qualität wird immer schlechter, wissen wir alle. Die großen Mengen verursachen zusätzliche Manipulation, was die Prozesse problematisch macht. Das heißt durch die Ressource, die in der Einkaufsabteilung „optimiert“ wird, produziert man zusätzliche Arbeit an anderen Stellen. Wir müssen verstehen, welcher einzelne Bereich welchen Beitrag leisten kann, um das Fließthema umzusetzen und die Prozesse insgesamt zu verbessern.

Wie kann man das Denkmuster auflösen?

In der Baubranche schwierig, weil die Baustellen und Akteure, auch die Subunternehmer, ständig wechseln, weil es immer ums Billigbieterprinzip geht, auch wenn viele behaupten, dass es nicht so ist. Man müsste dort ansetzen, wo es nicht um öffentliche Ausschreibungen geht und man die Möglichkeit hat, nur Partner ins Haus zu holen, die eine „Lean“-Baustelle von Grund auf entwickeln und auch die Subfirmen von Anfang an einbinden, damit auch deren Mitarbeiter wissen, was sich auf der Baustelle verändern muss. Sonst arbeiten diese nur die Aufträge ab und fertig. Was natürlich problematisch ist, weil man zu Beginn einer Baustelle ja oft noch gar keine unterschriebenen Verträge mit allen involvierten Firmen hat. Da gibt es viele, viele Hürden.

Workshop Teilnehmer

Eine permanent lernende Organisation ist Grundvoraussetzung, sonst arbeitet ein Unternehmen nicht Lean.

Dieter Budinsky

Dennoch gibt es Erfolgsgeschichten, eine davon werden Sie auch bei den Österreichischen Bautagen präsentieren …

Gemeinsam mit unserem Partner Schrenk haben wir für den Motel-Bau ein Logistikkonzept entwickelt für den Innenausbau ihrer Motels. Begonnen hat alles mit einer Motel-Baustelle, von der Stefan Schrenk mit seinen Leuten dreimal unverrichteter Dinge abgefahren ist, weil der Baufortschritt nicht gepasst hat. Daraufhin hat er gesagt: „Ich komme nicht mehr auf eure Baustellen, solange das nicht besser funktioniert. Wenn ihr wollt, zeige ich euch, wie es funktionieren kann.“ Und dann haben wir uns die Gewerke selbst ausgewählt, Schulungen und Simulationen mit den Mitarbeitern gemacht.

Da kamen Prozesse zustande, die wir uns vorher nicht vorstellen konnten. Der Fliesenleger hat in Rekordzeit die bereits präzise geschnittenen Fliesen verlegt, der Maler alle seine Utensilien Raum für Raum zur Verfügung gehabt. Ein gemeinsames Logistikteam hat  alle Gewerke mit dem richtigen Material versorgt. Das ist dann halt wirklich „Lean“. Begonnen haben wir damit, dass jeder Mitarbeiter pro Tag eineinhalb Stunden Freiraum hatte, um Ideen und Problemlösungen zu entwickeln. Und was ist passiert? Der komplette Innenausbau war in elf (!) Tagen fertig. Und wissen Sie, wie lange wir vorher gebraucht haben? Sechs bis acht Wochen.

Das sind natürlich schon sehr beeindruckende Zahlen …

Das ist möglich, wenn die Dinge ins Fließen kommen – Informationen und Material. Wie viel Material  liegt auf den Baustellen herum, bis es endlich verarbeitet wird, verschmutzt dabei, geht kaputt. Wir sind bei der Prozessoptimierung immer weiter in die Tiefe gegangen. Material wurde lediglich zwei, drei Stunden vor seiner Verarbeitung auf die Baustelle geliefert. Damit ist es eben auch möglich, im Unternehmen präzise nach Echtmaß geschnittene Fliesen anzuliefern.

Wenn ein Unternehmen zu Ihnen kommt und sagt: Wir wollen umstellen auf „Lean“. Was raten Sie, wie es die Umstellung angehen soll?

Das kann ich sehr klar beantworten: Wir nutzen alle Möglichkeiten, ein tiefes Bewusstsein zu schaffen, was da hinter der Lean-Philosophie steckt. Wir starten dann mit der Simulation, weil die Idee dann schon da ist, worum es geht. Was wir in der Simulation spielend erleben, setzen wir später in der Praxis um. Dazu suchen wir uns zu Beginn natürlich Bereiche aus, die gut geeignet sind, rasch Veränderungen zu sehen. „Lean“ stellt die Unternehmenspyramide auf den Kopf, nach dem Prinzip: Oben passiert die Wertschöpfung, die müssen wir unterstützen. Die Techniker müssen sich beispielsweise überlegen, mit welchen Maschinen und Werkzeugen kann ich die Mitarbeiter unterstützen. Von der Symbolik her steht die herkömmliche Unternehmenspyramide für Stabilität. Aber alles was stabil ist, ist nicht dynamisch, ist nicht lebendig.

Das heißt, im Prinzip müssen alle Mitarbeiter geschult werden, um zu wissen, worum es geht, oder?

Auf jeden Fall. Je größer das Unternehmen, desto mehr interne Experten bilden wir aus, um das Lean-Konzept nach innen zu tragen. Das müssen schon helle Köpfe sein, die Zusammenhänge gut verstehen. Was wir dann oft erleben, ist dass diese Mitarbeiter – wenn sich ihr Potenzial erst  einmal zeigt – schnell in Tagesgeschäftstätigkeiten hineingezogen werden und daher in ihrer Zeit, die sie für die Umsetzung von Lean im Unternehmen haben, beschnitten werden.

Ideal wäre es, wenn diese Mitarbeiter in der Umsetzungsphase komplett freigespielt werden. So bekommt man eine sehr strukturierte Ausbreitung hin. Diese Lean-Experten werden entsprechend geschult, damit sie Workshops im Unternehmen abhalten können. Und sie müssen mit Menschen gut umgehen können und den Mitarbeitern die Änderung des Mindset, anders gesagt den  Paradigmenwechsel oder die veränderten Denkmuster, nahebringen. Das hat sehr viel mit Bedürfnisbefriedigung zu tun. Über dieses Thema redet keiner, aber es geht um Bedürfnisse. Da gibt es den Grundsatz: Vertrauen braucht Intransparenz.

Klingt spannend. Was meinen Sie damit?

Es gibt kaum ein Unternehmen, das nicht irgendwo im Leitbild oder Wertesystem das Thema Vertrauen stehen hat. Die Digitalisierung führt aber auch zur totalen Transparenz und Kontrolle über den Mitarbeiter. Dann fühlt er sich misstraut. Transparenz ist dann gut, wenn ich sie selber  kontrollieren kann, wenn sie mir Feedback gibt, mach ich das jetzt gescheit? Oder wenn mir mein Handy sagt: Pass auf, der Abflug, vergiss nicht einzuchecken! Aber das ist eine Transparenz für mich, zu meiner Kontrolle. Und nicht, dass mich irgendwer kontrolliert: Hast du eingecheckt? Das ist ganz ein großer Unterschied zwischen den Systemen, die wir heute etablieren in den Firmen. Ich sag es wirklich sehr, sehr provokant: Bei der Transparenz geht es fast nur um Kontrolle, nicht um Verbesserung. Das ist dramatisch und kontraproduktiv, was die Mitarbeiterunterstützung betrifft. Und es erkennt keiner. Und darum sag ich: „Vertrauen braucht Intransparenz“. Darüber kann man lang philosophieren.

Das heißt, es braucht dafür auch Auftraggeber, die das neue Wertesystem mittragen?

Eine der großen Hürden sind die Bauherren. In den Gesprächen mit der TU Graz ist sehr klar herausgekommen, dass Auftraggeber sich zwar gerne die Vorteile, die sich aus dem „Lean“ heraus ergeben, anhören, aber Im Endeffekt kommt dann immer: „Was kostet es? Was bringt es mir?“ Aber das ist wahrscheinlich nicht das, was Sie hören wollten. Da muss ich weiter ausholen.

Ein wichtiger Baustein für den Erfolg ist eine offene Kommunikationsstruktur. Ich muss die Menschen kommunizieren lassen. Ich kann nicht sagen: Einmal im Jahr gibt es ein Meeting, da wirst du eh  informiert, wie Lean Management funktioniert. Sondern jeder Mitarbeiter muss in irgendeiner Form die Möglichkeit haben, zu sagen welche Probleme er hat und was man daraus für morgen lernt. Permanentes Feedback ist wichtig, um laufend die Prozesse zu verbessern. Eine permanent lernende Organisation ist Grundvoraussetzung, sonst arbeitet ein Unternehmen nicht „Lean“. Es muss ein ständiger Prozess der Veränderung stattfinden. Dafür braucht es entsprechende Strukturen. Und es braucht einen Zielvereinbarungsprozess. Auf diesem Klavier spielen wir überhaupt noch nicht.

Was sagen Sie Unternehmern, die fragen, wie viel sie durch „Lean Management“ einsparen können?

Die Frage ist deswegen gut, weil ich dann auch erklären kann, was dahintersteckt. Wir sind ja beim Managen der Systeme sehr, sehr gut darin, Ressourcen zu messen. Wie viel Quadratmeter pro Mitarbeiter werden beispielsweise verlegt. Aber wir sind so gut wie nicht in der Lage zu sagen, wie viel Zeit wir für Warten, Suchen, Doppelarbeiten verwenden. Das ist die Verschwendung. Diese messen wir schlicht und ergreifend aber nicht mit unseren Systemen. Und nachdem ich nicht weiß, wie es jetzt ist, kann ich ihm nur sagen, 70 Prozent Verschwendung sind weg, das garantiere ich.  Aber nur, wenn es wirklich eine „Lean“-Baustelle ist, nicht wenn ich „lediglich“ ein „Last Planner-System“ einführe.

Das erklären Sie mal einem Bauherrn. Den interessiert nur, was der Subler pauschal kostet. Ob der schneller ist aufgrund veränderter Prozesse, ist dem Bauherrn meist egal. Wenn die Schlüsselpersonen nicht wirklich verstehen, welche Vorteile „Lean“ für alle bringt, haben Sie kaum eine Chance. Meiner Erfahrung nach funktioniert die Überzeugung am besten über Best Practice-Beispiele, wo man wirklich transparent macht, bei dem und dem Projekt haben wir diese Prozesse verändert und damit diese und jene Ziele erreicht. Was ich auch oft gehört habe ist, dass Mitarbeiter oder Gewerke oder auch der Auftraggeber eine spürbare Veränderung erlebt haben und am Schluss wirklich gesagt haben: Das war jetzt eine völlig andere Baustelle, völlig andere Abläufe, so möchte ich das eigentlich in Zukunft immer haben.

Das Interview führte Sabine Müller-Hofstetter vom Baumagazin a3BAU, die uns dankenswerter Weise das Interview für die Deep Lean Lernstatt zur Verfügung gestellt hat.

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